JungeWelt
01-10-2018
Von Krystyna Schreiber, Barcelona
Vor einem Jahr, am 1. Oktober 2017, gingen die Bilder vom Referendum über eine Selbstbestimmung Kataloniens um die Welt. Die Abstimmung war von der spanischen Zentralregierung in Madrid verboten worden und sollte durch ein Großaufgebot von 6.000 Beamten der Nationalpolizei und der paramilitärischen Guardia Civil verhindert werden. Den Katalanen sind die Bilder der Uniformierten, die auf friedliche Wähler einprügeln, im Gedächtnis geblieben. Schon im Vorfeld waren Abstimmungsmaterial und Wahlurnen beschlagnahmt, katalanische Ministerien besetzt und durchsucht, Beamte festgenommen und mehrere hundert Webseiten abgeschaltet worden. Die Bilanz am Ende des Tages: Mehr als 1.000 verletzte Wählerinnen und Wähler. Ein Mann verlor ein Auge, als er von einem Gummigeschoss getroffen wurde, obwohl deren Einsatz in Katalonien verboten ist. Trotz der Repression beteiligten sich an der Abstimmung knapp 2,3 Millionen Menschen, was einer Wahlbeteiligung von 42,3 Prozent entspricht. Von diesen votierten 90,18 Prozent für die Unabhängigkeit, knapp acht Prozent sprachen sich dagegen aus.
Obwohl in den für das Referendum verabschiedeten Gesetzen festgelegt war, nach Feststehen des entsprechenden Ergebnisses innerhalb von 48 Stunden die Unabhängigkeit der Katalanischen Republik auszurufen, schob der damalige Ministerpräsident Carles Puigdemont diese Proklamation bis zum 27. Oktober auf. So sollte Zeit für eine Vermittlung durch die Europäische Union gewonnen werden. Doch Madrid fand sich nicht zu Gesprächen bereit. Statt dessen stellte die spanische Zentralregierung die aufmüpfige Region unter Zwangsverwaltung, löste das Parlament auf und initiierte die juristische Verfolgung von Politikern und Aktivisten sowie der Köpfe der Regionalpolizei Mossos d’Esquadra. Letzteren wurde vorgeworfen, nicht gegen die Bevölkerung vorgegangen zu sein, um die Abstimmung zu verhindern.
Die vom damaligen spanischen Regierungschef Mariano Rajoy angesetzten Neuwahlen in Katalonien bestätigten im Dezember jedoch die parlamentarische Mehrheit der für die Unabhängigkeit eintretenden Parteien, die zusammen knapp 48 Prozent der Stimmen erhielten. Zum Zeitpunkt der Wahl saßen mehrere Kandidaten bereits in Untersuchungshaft oder hatten sich der Verhaftung durch Flucht ins Exil entzogen. Insgesamt fanden sieben ehemalige Regierungsmitglieder Zuflucht im Ausland, unter ihnen Puigdemont. 13 Menschen sitzen seit Monaten in Untersuchungshaft, unter ihnen die zwei Vorsitzenden der größten Bürgervereine für die Unabhängigkeit, Jordi Cuixart und Jordi Sànchez, sowie ehemalige Mitglieder von Puigdemonts Kabinett. Die Prozesse wegen Rebellion, Aufruhr und in einigen Fällen Veruntreuung stehen in den kommenden Wochen an, den Angeklagten drohen jeweils bis zu 30 Jahre Haft. Zudem sind mehrere hundert Bürgermeister angeklagt, weil sie öffentliche Einrichtungen als Wahllokale zur Verfügung stellten. Hotelbesitzer werden wegen angeblicher Hassdelikte vor Gericht gezerrt, weil sie sich weigerten, die Beamten der Guardia Civil zu beherbergen. Lehrer werden mit Verfahren überzogen, weil sie im Unterricht die Polizeigewalt thematisierten.
Nach sechs Monaten und nach der Wahl des neuen katalanischen Regierungschefs Joaquim Torra wurde die Zwangsverwaltung aufgehoben. Die Normalisierung der politischen Aktivitäten zieht sich jedoch hin, denn zahlreiche Institutionen waren von Madrid geschlossen, rund 800 Millionen Euro an öffentlichen Mitteln blockiert und 259 Angestellte der katalanischen Regionalverwaltung entlassen worden. Erst vor wenigen Tagen konnte in Berlin die von Marie Kapretz geleitete Vertretung Kataloniens wiedereröffnet werden. Puigdemonts ehemalige Landwirtschaftsministerin Meritxell Serret, die seit Oktober 2017 im Exil in Brüssel lebt, übernahm dort die Leitung der katalanischen Repräsentanz.